Die Eule der Minerva

Der Mythos von der Eule der Minerva ist eine weihnachtliche Legende.

Eule der Minerva

Erzählt man sich doch, die Eule habe, mit ihrer Fähigkeit auch in der Nacht zu sehen, über die Jungfräulichkeit der Göttin Athene gewacht, um sie Poseidon, dem Meeresgott, zum Geschenk machen zu können, damit er auf diese Weise besänftigt, die Stadt Athen nicht durch seine zornigen Fluten verwüstet.

Durch ihre Fähigkeit auch im Dunkeln sehen zu können, avancierte sie zum Symbol der Weisheit und der Wissenschaft.

Ich habe diese Eule der Minerva entdeckt, als ich auf der Suche nach meinem mutmaßlichen „Hass“ auf die Naturwissenschaften war, den Kardinal Novize Igor bei mir zu finden glaubt.

Um diesem Hass auf die Spur zu kommen habe ich mir ein Buch zu Weihnachten geschenkt, das mich der Klärung dieser Frage näher bringen könnte.

Der Autor ist Pirmin Stekeler-Weithofer, Professor für theoretische Philosophie an der Universität Leipzig. Das Buch trägt den zweifellos umständlichen Titel:

„Philosophie des Selbstbewusstseins – Hegels System als Formanalyse von Wissen und Autonomie“

In einer Rezession dieses Buches wurde Naturwissenschaftlern davon abgeraten, es zu lesen, weil es sie verärgern könnte. Das machte mich aus naheliegenden Gründen neugierig.

In der Tat wurde ich fündig. In diesem Buch wird Martin Heidegger zitiert, der viele Wissenschaftler verärgerte, als er die These aufstellte, „die Wissenschaft denkt nicht.“

Stekeler-Weithofer gibt ihm recht und führt dazu aus:

Wir werden in die einzelnen Wissenschaften und durchaus auch in die Philosophie wie in jede andere übliche Praxis zunächst passiv eingeführt. Wir lernen gewisse Schemata zu befolgen und gewisse Standards zu erfüllen. Solange wir den vorgeführten Schemata folgen, denken wir nicht über sie nach.

Die Wissenschaft ist so betrachtet nicht die Suche nach der Wahrheit sondern stellt immer nur für ihre Disziplin gültige Kriterien der Richtigkeit auf, die erfüllt werden müssen.

Die Wissenschaft übersieht dabei regelmäßig, dass es sich hierbei um historisch gewordene Setzungen handelt, die vormals frei gewählt- und anschließend allgemein akzeptiert worden sind.

Was der Wissenschaft fehlt, ist die Reflexion auf sich selbst. Die Wissenschaft wähnt sich in einer Position außerhalb der Welt, von der sie die Welt betrachten könnte und gründet darauf ihren Anspruch auf „Objektivität“.

Mittlerweile ist mit der Heisenbergschen Unschärferelation immerhin in der Quantenphysik die Einsicht angekommen, dass der Beobachter die Beobachtung selbst mit determiniert. Das ist aber zunächst nur eine praktische-, aber noch keine philosophische Einsicht.

Auch das Unvollständigkeitstheorem des Mathematikers Gödel ist ein gutes Argument für die Behauptung, dass es keinen Standpunkt jenseits der Welt gibt, von dem aus die Welt als Ganzes durch die Wissenschaft vollständig beurteilbar wäre.

Immanuel Kant hat immerhin einen Versuch unternommen, auf die Bedingungen der Möglichkeit wissenschaftlicher Aussagen zu reflektieren. Aber auch sein Versuch allgemeingültige Kategorien des Denkens aufzustellen, ähnelt strukturell, dem „Ding an sich“ von dem er selbst behauptet, man könne es nicht erkennen.

Sein Irrtum und der Fehler der meisten Wissenschaftler besteht darin, ein System aufstellen zu wollen, aus dem sich alles andere deduktiv ableiten lässt. Würde sich alles gemäß irgendwelcher Regeln verhalten, wo bliebe da die von der Aufklärung und der Moderne so hoch gelobte Autonomie und Freiheit des Individuums?

In der Tat gibt es in der Neurowissenschaft mit den viel zitierten Libet-Experimenten den Versuch, die Autonomie des menschlichen Handelns mit „naturwissenschaftlichen“ Methoden und Argumenten  zu bestreiten.

Würde die Wissenschaft auf sich selbst reflektieren, dann könnte sie erkennen, dass Sie aus der menschlichen Praxis geboren ist, aus der menschlichen Entscheidung, Begriffe so und nicht anders zu bilden und Beobachtungen auf eine bestimmte Weise zu schematisieren.

Diese Begriffsbildungen und Schematisierungen unterliegen einem stetigen Wandel und auch die wissenschaftlichen Revolutionen, wenn sie erfolgreich sind, verdanken sich der kollektiven Anerkennung und Akzeptanz nicht nur der Wissenschaftler sondern auch der Gesellschaft, die ebenfalls nicht vom Himmel fällt sondern selbst durch die Menschen allererst hervorgebracht wird.

Reflexion heißt zu aller erst Rückwendung. Reflektieren heißt, sich mit der Frage beschäftigen, wie etwas entstanden ist und warum etwas so ist, wie es ist.

Denken ist Reflexion, es besteht vor allem darin, Fragen zu stellen. Denken ist autonom und unterscheidet sich von der bloßen Befolgung von Regeln deren auch ein Computer fähig ist.

Bedingung jeder echten Autonomie ist daher ein einklammernder Widerspruch gegen Traditionen und Konventionen, wie sie nicht nur aber auch in den Wissenschaften gepflegt werden.

Reflexion ist daher aus Sicht etablierter Systeme immer unbequem. Auch aus diesem Grund belieben Wissenschaftler in der Regel nicht zu denken, wie Heidegger richtig feststellte.

Außerdem leidet die moderne Wissenschaft unter einem eingeschränkten, verwirrenden und fehlgeleiteten Wahrheitsbegriff.

Allgemein wird angenommen, das Wissen entwickle sich zu immer höheren Stufen und komme auf diese Weise der Wahrheit immer näher. Theoretisch wird mit der Möglichkeit gerechnet, der Mensch könne in einer nicht allzu fernen Zukunft alles wissen.

Nur auf diesem Hintergrund sind die Versuche zu verstehen, eine Weltformel zu finden, oder einander widersprechende Theorien in einer anderen höheren Theorie zu vereinigen, was auch Einstein nicht gelungen ist.

Der Irrtum, der diesen Wunschvorstellungen zu Grunde liegt, ist die Verabsolutierung des Wissensbegriffs. Das Wissen ist kein Ding an sich, das nur entdeckt werden muss, sondern Wissen ist immer ein Prozess der aus der menschlichen Kommunikation selbst hervorgebracht wird.

Darin besteht auch der Mangel, in den Theorien eines Descartes, Look, Hume oder Kant. Sie gehen vom denkenden Subjekt, dem Individuum aus und verkennen, dass auch das Subjekt nur in bereits gewordenen und kollektiv geteilten Kategorien und Begriffen denken kann.

Die KuhnscheTheorie der paradigmatischen Verfasstheit der Wissenschaft hat diesen Aspekt wieder ins Bewusstsein gehoben.

Die Suche nach der Wahrheit kann als Versuch beschrieben werden, gültige und anerkannte Konventionen, Regeln und Theorien auf ihre Entstehungsbedingungen zu hinterfragen und vielleicht verschüttete oder vergessene Wahrheiten wieder zu entdecken.

Das Bild für diese Wahrheitssuche, ist die Eule der Minerva. Sie blickt in die Dunkelheit und verharrt lange an einem hohen Ort, von dem aus sie einen guten Überblick über jede Bewegung hat.

Wer reflektiert, muss sich wie die Eule Zeit nehmen und verharren.

Die Wissenschaft neigt eher dazu, einer imaginierten Zukunft hinterherzurennen. In der Wissenschaftsgeschichte ging es oft darum, wer zuerst mit einer Erkenntnis an die Öffentlichkeit kommt und die heiß begehrte Anerkennung durch die Wissenschaftsgemeinde und die Medien einheimsen kann. Nicht selten hat der Unterlegene behauptet, der Sieger habe plagiiert.

Oft geht es in erster Linie um die Reputation des Wissenschaftlers und erst in zweiter Linie um die Wissenschaft selbst. Jeder kennt Albert Einstein aber kaum einer versteht seine Relativitätstheorie. Es reicht zu wissen, dass Einstein recht hat, weil man das so gelernt hat.

Dem gegenüber versucht die Eule der Minerva von einem ruhigen Ort aus das Ganze in den Blick zu nehmen und erst einmal abzuwarten bis es dunkel wird. Daher rührt auch der in Ungnade gefallene Begriff der Spekulation.

Ursprünglich und auch bei Hegel hat er genau diese Bedeutung. Spekulation ist ruhige Betrachtung des Ganzen, wie von einem Leuchtturm aus, und Erwartung.

Heute hat der Begriff Spekulation nur noch die Bedeutung, aus einer unsicheren Erwartung hinsichtlich einer hypothetischen  Entwicklung auf den Finanzmärkten möglichst großes Kapital zu schlagen.

Des Weiteren versteht man heute unter Spekulation, dass man sich sinnlose Gedanken über unsinnige Gegensände und „Scheinprobleme“ macht.

Auf ähnlich unsachgemäße Weise wurde der Wahrheitsbegriff reduziert: Im Begriff der Wahrheit war bei Aristoteles immer auch der Begriff des Vernünftigen, der Werte und des Guten enthalten.

Die Moderne hat ihren Wahrheitsbegriff davon abgekoppelt und versucht den Wissenschaftsbegriff als wertfrei zu konstruieren. Wahrheit wurde auf die Dichotomie von richtig und falsch im Sinne einer vorausgesetzten nicht weiter hinterfragbaren Theorie reduziert.

„In der Philosophie aber, (wie sie Aristoteles, Hegel und Heidegger verstehen), geht es um den pragmatisch-praktischen Lebensbezug und damit um einen emphatischen Begriff der Wahrheit, der über bloß interne Richtigkeit einer Aussage in einer Theorie oder in einer bestimmten Darstellung von Welt oder einer bestimmten Technik hinausgeht.

Richtigkeiten bleiben auf vorgegebene Zwecksetzungen und Kriterien beschränkt und beziehen die schon getroffenen Wahlen etwa der Darstellungsform und des Interesses nicht weiter ein.“

Eine Stärke der modernen Naturwissenschaft besteht zweifellos in ihrer Fähigkeit klar definierte Probleme zu lösen. Ein Irrtum ist es allerdings zu glauben, ihre Methode wäre ein sinnvoller Weg die Welt zu erklären.

Mit welcher Methode die Eule der Minerva nach der Wahrheit sucht beschreibt folgendes Bild, das auf Martin Heidegger zurückgeht:

„Die Arbeit des Philosophen besteht darin, durch die Schaffung neuer Formen der Rede die Diesseitigkeit des Daseins aufzuhellen, allgemeine, aber wesentliche Verhältnisse unseres Lebens, die im üblichen Gerede des Alltags oder auch in den Lehrbüchern der Theorien verdeckt bleiben, aus der Verborgenheit bloßer Unterstellungen ans Licht zu ziehen.

Echte Wahrheit ist gemäß dieser Auffassung die Unverborgenheit in einer Lichtung des Daseins, die gewissermaßen als Schneise, hoffentlich nicht als Holzweg in das Dickicht des Alltäglichen und Üblichen durch philosophische Reflexion geschlagen wird.“

Hier erkennt man ganz deutlich den emphatischen, geradezu poetischen Wahrheitsbegriff der allein dazu in der Lage ist, einen Zipfel dessen einzufangen, was unter Wahrheit im Umfassenden Sinn verstanden werden muss.

Auch Hegel schwelgt angesichts der Eule der Minerva in Poesie. Er schreibt:

„Wenn die Philosophie ihr Grau in Grau malt, dann ist eine Gestalt des Lebens alt geworden, und mit Grau in Grau lässt sie sich nicht verjüngen, sondern nur erkennen; die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug.“

Er spielt damit auf die Alltagsweisheit an, dass man den Tag nicht vor dem Abend loben sollte.

Allgemein vertritt Hegel die Ansicht, dass erst im Rückblick eine Sache vollständig erfasst werden kann, deshalb könne die Philosophie die Wirklichkeit nur beschreiben wie sie (geworden) ist, nicht aber wie sie sein soll oder sein wird. Hegels Philosophie ist deshalb ihrem Wesen nach deskriptiv und gerade nicht normativ, wie aus Unkenntnis häufig unterstellt wird.

Dass auch der Flug der Eule in die Irre führen kann und die Lichtungen die in das unverstandene Wissen geschlagen werden, Holzwege sein können, wird dadurch dokumentiert, dass auch der berüchtigte Iluminatenorden des Adam Weißhaupt seine Manifeste mit der Eule der Minerva zierte und dass die Elite dieser Welt am Bohemian Grove am Fuße einer überlebensgroßen Eule Rituale zelebriert, die unserem ehemaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt, den man dazu eingeladen hatte, gelinde gesagt merkwürdig vorkamen.

Was die Eule der Minerva in Gestalt Hedwigs, der ständigen Begleiterin bei Harry Potter zu suchen hat und was wir davon halten sollen, wäre eine eigene Betrachtung wert.

(Die in Anführungszeichen gesetzten Texte und die zentralen Gedanken des obigen Textes sind dem ersten Kapitel des Buches, Philosophie des Selbstbewusstseins – Hegels System als Formanalyse von Wissen und Autonomie, entnommen)

9 Gedanken zu „Die Eule der Minerva

  1. alphachamber

    Hallo!
    Ich habe mit Hegel zwar „abgeschlossen“ (in gutem Einvernehmen, LOL :-D),
    Aber Sie haben mich neugierig gemacht und der Titel kommt auf meine Bestell-Liste.

    Ihnen ein gesundes und ereignisreiches Neues Jahr!

    (P.S. Mir fällt ein, dass sie dies vielleicht interessieren könnte. Es ist über ein anderes Thema, aber exzellenter Spiegel des Hegel’schen Geistes: G.W.F. Hegel: „Über die Reichsverfassung“ aus noch nicht lange erforschten Schriften, C.H. Beck Verlag, 2002.
    Steht in meiner Bibliothek unter „Politik“.)
    LG

    Antwort
    1. hansarandt Autor

      Vielen Dank für die guten Wünsche zum neuen Jahr. Ihnen wünsche ich ebenfalls alles Gute für 2015. Schön ist auch, dass wir beide bei einem Beitrag nicht gleich aneinander geraten. Vielleicht wird das kommende Jahr friedlicher. Andererseits möchte ich den engagierten Streit um die Sache auch im nächsten Jahr nicht missen, es belebt den Geist.

      Antwort
      1. alphachamber

        Absolut – und schon wieder haben wir einen Schnittpunkt. Übrigens: Ich habe unsere Dialoge nie als ein „aneinander-geraten“ empfunden. Dieses Kommentar-Format ist natürlich ein schlechter Ersatz für persönliche Gespräche und was fehlt ist dabei das Gesicht des anderen: das verschmitze, gutgemeinte Lächeln bleibt verborgen und die Worte erscheinen oft hart durch gekürzte Sätze. Wenn wir das so verstehen können, haben wir auch im nächsten Jahr fruchtbare „Gespräche“ (nicht das „r“ verschieben!).

  2. Annette Schlemm

    Ja, es gibt durchaus einen Unterschied zwischen Wissenschaft über verschiedene Gegenstände von Natur, Gesellschaft oder Denken und Philosophie als Untersuchung menschlicher Praxen, u.a. des wissenschaftlichen Arbeitens. Letztlich hat beides unterschiedliche Themen und Gegenstände, deshalb ist die Unterscheidung sinnvoll, auch wenn ein*e gute*r Wissenschaftler*in oder Philosoph*in beides können sollte.

    Ich habe diese Unterscheidung auch verwendet bei meinen wissenschaftsphilosophischen Überlegungen, siehe z.B. hier: http://www.thur.de/philo/project/realitaet.htm

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